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Noch immer ist die Ursache der Krankheit rätselhaft. Hirnforscher vermuten, dass Fehler in der Nervenleitung die Schmerzen auslösen. Aber neue Medikamente zur Vorbeugung und akuten Bekämpfung der Schmerzen sind in Sicht
von Wolfgang W. Merkel

Den einen ereilt die Tortur nach zwei Gläsern Wein, den zweiten nach zu viel Stress. Ein Dritter könnte schwören, immer sei Schokolade schuld. Und ein Vierter leidet ohne erkennbaren Auslöser, einfach so, obwohl er nichts anderes erlebt hat als an den vorherigen Tagen. Die Tortur trägt den Namen Migräne. Die Weltgesundheitsorganisation zählt sie zu den Top-4-Krankheiten, die das Leben der Betroffenen am stärksten beeinträchtigen - zumindest in ihren schweren chronischen Formen.

Doch das könnte sich demnächst ändern: Denn bald soll jenen Schmerzgeplagten, denen bislang wenig Linderung vergönnt war, ein Bakterium helfen. Sein Gift, die aus der kosmetischen Medizin bekannte Antifaltensubstanz Botulinumtoxin ("Botox"), beugt den Schmerzen nämlich vor. Kürzlich ließen die britischen Behörden Botox zur Anwendung bei Migräne zu, der Schmerzspezialist Professor Hans-Christoph Diener vom Universitätsklinikum Essen erwartet die Zulassung für Deutschland im Oktober oder November dieses Jahres.

Diener hatte mit seinem US-Kollegen David W. Dodick von der Mayo-Klinik in Scottsville (US-Staat Arizona) in einer Studie belegen können, dass Botox die Zahl der Migräne-Tage pro Monat deutlich reduziert. Der subjektive Gewinn an Lebensqualität ist beträchtlich.

Die Substanz wird an sieben verschiedenen Regionen in die Kopf- und Nackenmuskulatur injiziert. Alle drei bis fünf Monate muss die Prozedur wiederholt werden. Wie Botox Schmerzen vorbeugt, ist aber noch unklar. Vermutlich wird die Ausschüttung einiger Botenstoffe blockiert, die Reize von der Haut irrtümlicherweise als Schmerz etikettiert an das Gehirn melden.

Jedes neue prophylaktische Mittel wird herbeigesehnt, denn noch immer gibt es Patienten, die mehrfach pro Monat tagelang anhaltende Schmerzattacken erleiden müssen, weil weder Akut-Schmerzmittel noch Vorbeugung wirklich helfen. Gerade bei der Entwicklung von vorbeugenden Mitteln gebe es kein Konzept, sagt Neurologe Diener. "Neue Medikamente sind immer zufällig entdeckt worden. Stets hatten Patienten wegen anderer Leiden Medikamente genommen und dann zufällig festgestellt, dass auch ihre Migräne verschwand." So geschehen bei Betablockern gegen Herz-Kreislauf-Leiden, Calciumantagonisten gegen Schwindel, Antiepileptika oder Antidepressiva. Alle Versuche, spezifisch der Migräne vorbeugende Medikamente zu finden, seien fehlgeschlagen.
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Am besten wirkt bei hartnäckigen Fällen eine Behandlung aus vorbeugenden und Akutmedikamenten, Verhaltens- und Stressbewältigungstraining sowie Ausdauersport. Das zeigte eine Studie an einem Kopfschmerzzentrum in Kopenhagen. Demnach bringt eine einwöchige Schulung zum Umgang mit der Migräne mehr als 70 Prozent der Teilnehmer eine deutliche Verringerung der Migränetage. Die Wirkung hält länger als ein Jahr an.

Selbstverständlich profitiert auch von einem Anti-Stress-Seminar, wer nur hin und wieder unter leichten Attacken leidet. Aber für ihn ist auch die Akuttherapie vergleichsweise klar: Experten empfehlen klassische Schmerzmittel wie Paracetamol, die "nichtsteroidalen Antirheumatika" wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Diclofenac und Naproxen, außerdem Kombinationspräparate mit Koffein. Gegen schwere Attacken gibt es die speziell gegen Migräne entwickelten Triptane. Favoriten haben Schmerzexperten nicht - der Patient muss ausprobieren, was den Kopfschmerz am besten lindert.

Was schmerzt, ist nicht etwa das Gehirn selbst - das ist schmerzunempfindlich. Vielmehr sind es die Hirnhäute und Blutgefäße, die über Verbindungen zum Trigeminusnerv gereizt werden. Aber warum kommt es überhaupt dazu? Eine Rolle spielt wohl, dass der Trigeminus überempfindlich reagieren kann und normale physiologische Reize, beispielsweise das normale Pulsieren der Arterien durch den Herzschlag, als pathologische Veränderung meldet. Das Gehirn deutet dies dann als Schmerz.

Doch seit kurzer Zeit scheint alles viel komplexer, die Ursachen der Migräne liegen offenbar in einer evolutionär alten Hirnregion, dem Stammhirn. Grundsätzlich wandern neuronale Signale entlang der Nervenfasern, indem sich die elektrische Ladung an den Wänden der Nervenzellen kurzfristig ändert. Das vollbringt die Zelle mit geladenen Partikeln, die sie durch die Membran schiebt. Diese Änderung der Spannung, die Experten Depolarisation nennen, wandert wie eine Welle die Zelle entlang.

Nach dem Durchgang dieser Welle sorgt die Zelle für den entgegengesetzten Ladungstransport und versucht, die Verhältnisse vor dem Signal wieder herzustellen. Allerdings schießt sie dabei ein wenig über das Ziel hinaus, und an der Zellwand entsteht eine "Hyperpolarisation". Für eine kurze Zeit ist die Zelle nun außerstande, einen neuerlichen Impuls weiterzuleiten.

So weit, so normal. Während einer Migräne fallen Depolarisation und Hyperpolarisation indes besonders heftig und großflächig aus, und die signalfreie Pause dauert länger. Von einem "neuronalen Erregungssturm" oder einer "kortikalen Streudepolarisation" sprechen US-Neurologe Dodick und sein Kollege J. Jay Gargus von der Universität von Kalifornien in Irvine im Magazin "Spektrum der Wissenschaft". Bildgebende Verfahren zeigen deutliche Parallelen zu dem, was man Aura nennt - Licht-, Farb- und geometrische Halluzinationen, welche die Migräneschmerzen ankündigen: Der Erregungssturm wütet nicht in einer begrenzten Hirnregion, sondern zieht auf einer Bahn durch die Hirnrinde. Von der Nackenseite aufwärts überstreicht er Bereiche, die die geschilderten Eindrücke erzeugen.

Eine Theorie besagt, dass der neuronale Erregungssturm den Trigeminusnerv zur Schmerzaussendung anregt. Eine andere These sieht fehlgesteuerte Nervenzellen in den sogenannten Raphe-Kernen im Hirnstamm als Auslöser. Die Raphe-Kerne drosseln normalerweise die Schmerzentstehung im Trigeminus, ein Fehler dort könnte also die Schmerzen auslösen. Die Kerne kontrollieren zudem Sinneseindrücke auf dem Weg zur Verarbeitung in der Hirnrinde, etwa Geruchs-, Licht- und Geräuscheindrücke - was wiederum die große Empfindlichkeit von vielen Migränikern erklären würde.

Das Leiden bleibt dennoch rätselhaft. Viele Patienten haben gar keine Aura. Zieht der Erregungssturm bei ihnen über Bahnen durch die Hirnrinde, die keine optischen Erscheinungen generieren? Was löst den Erregungssturm aus? Wie ist der Zusammenhang zwischen diesem Sturm und den Migräneauslösern ("Trigger") Stress oder Alkohol? Sind andere Verdächtige tatsächlich unschuldig?

Schokolade beispielsweise sei nur scheinbar ein Trigger, sagt Neurologe Hans-Christoph Diener. Es sei eher so, dass die heraufziehende Migräne Hunger auf Süßes hervorrufe. Wer dem nachgibt und zur Schokotafel greift, hat hinterher den irrtümlichen Eindruck, die Schokolade sei schuld gewesen. Auch Käse sei nur selten Auslöser.

Einen Schuldigen gibt es aber meistens nicht. "Der Löwenanteil der Attacken entsteht spontan", sagt Diener. Es gebe aber einen Zyklus: Nach einer Migräne ist das Gehirn weniger anfällig. Die Erregbarkeit der Nerven steigt dann an, bis ein kritisches Maß überschritten ist, und die nächste Schmerzattacke beginnt. Enttäuschend für den Kranken, denn er hat keine Chance, die Migräne durch eine bestimmte Diät zu vermeiden.

Während es noch keine Antworten auf viele Fragen der Entstehung gibt, sind doch weitere Akutmittel in Sicht. Ihr Ziel ist ein Eiweiß mit dem Kürzel CGRP. Das erweitert sehr wirksam Blutgefäße, und bereits Ende der 80er-Jahre fand man heraus, dass bei einer Migräneattacke der CGRP-Pegel im Blut steigt und danach wieder abfällt. Forscher um Stewart J. Tepper von der Cleveland Clinic Foundation im US-Staat Ohio fanden wiederum heraus, dass der gefäßerweiternde Effekt von CGPR ausgeschaltet werden kann - was den Schmerz wirksam dämpft. CGRP wird durch die neuen Wirkstoffe Olcegepant und Telcagepant aber nicht direkt bekämpft. Vielmehr blockieren diese jene Rezeptoren, an denen sonst CGPR andockt und die Gefäßerweiterung auslöst.

Patienten, denen bisher keine Arznei geholfen hat, dürfen hoffen: Neben Botox zur Vorbeugung laufen derzeit Erfolg versprechende Tests zu zwei neuen Akutmitteln.

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